Auswirkungen unklar
Was in den letzten Stunden schon klar war, ist jetzt fix: Beim Großbritannien-Referendum hat das „Brexit“-Lager mit 51,9 Prozent gesiegt, bestätigten Freitagfrüh die britischen Behörden. Nach Auszählung aller 382 Wahlkreise gab es 17,4 Millionen Stimmen für den Austritt und 16,1 Millionen für den Verbleib in der EU.
Damit steht das Vereinigte Königreich vor dem Austritt aus der Europäischen Union. Das „Leave“-Lager ist damit laut von der BBC veröffentlichten Ergebnissen mit 1,27 Million Stimmen klar voran.
Pfund stürzt dramatisch ab
Die Finanzmärkte reagierten schon die Nacht hindurch entsetzt. Das britische Pfund fiel auf den niedrigsten Stand seit 1985. Die EU dürfte damit der schwersten Krise ihrer Geschichte gegenüberstehen. Die Zukunft für Großbritannien und für dessen Premierminister David Cameron ist unklar, sollte sich das Ergebnis bestätigen.
Der Chef der rechtspopulistischen UKIP-Partei, Nigel Farage, jubelte und sprach vom „neuen britischen Independence Day“. „Wir haben es geschafft, ohne dass eine einzige Kugel abgefeuert wurde“, sagte er - eine Woche nach der Ermordung der Labour-Abgeordneten Helen Joanne „Jo“ Cox.
Nigel Farage: Binnen weniger Stunden vom scheinbaren Verlierer zum Gewinner
Folgen noch unabsehbar
Die Folgen sind noch unabsehbar: Die Bank of England muss wohl als Krisenfeuerwehr einschreiten, um einen schweren Börsen- und Bankenkrach, der sich im schlimmsten Fall global ausbreitet, zu verhindern.
Premier David Cameron soll noch am Vormittag Stellung nehmen - wohl kurz nach Bekanntmachung des Endergebnisses. Camerons Tage sind mit dem sich abzeichnenden „Out“-Votum jedenfalls gezählt. Vorzeitige Neuwahlen sind dann wohl wahrscheinlich. Sein parteiinterner Konkurrent, Londons Ex-Bürgermeister Boris Johnson, dürfte nun alles daransetzen, rasch Cameron zu entmachten. Johnson hat sich dieses Karriereziels wegen vom EU-Befürworter zum EU-Gegner gewandelt. Johnsons Wechsel ins „Leave“-Lager dürfte viele Unentschlossene für den „Brexit“ gewonnen haben.
Camerons Scherbenhaufen
Cameron dürfte als „Mister Referendum“ in die Geschichtsbücher eingehen: zuerst das schottische Unabhängigkeitsreferendum mit Mühe überstanden - nur um ein Jahr später aus wahltaktischen Gründen das EU-Referendum anzukündigen - das, wie es aussieht, Großbritannien aus der EU katapultiert. Seine Konservative Partei wurde durch das Referendum noch weiter gespalten. Nach seinem unerwarteten und grandiosen Wahlsieg im Vorjahr steht Cameron nun vor dem Scherbenhaufen seiner Taktik, vor der ihn von Beginn an viele gewarnt hatten.
Spätestens wenn neu gewählt wird, dürfte UKIP auch im britischen Parlament eine Macht sein. Für Labour ist das Ergebnis eine Katastrophe: Traditionelle Hochburgen gingen direkt an UKIP verloren.
Destabilisierung in Nordirland
Mittelfristig ist vor allem unklar, ob das ein zweites schottisches Unabhängigkeitsreferendum auslöst und ob der labile Frieden in Nordirland - nicht zuletzt durch EU-Millionen abgesichert - unter Druck gerät. Die Chefin der Scottish National Party (SNP), Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon, betonte bereits, dass Schottland in der EU bleiben wolle. Die links-nationalistische katholische Sinn-Fein-Partei in Nordirland kündigte an, verstärkt für ein Referendum zur Vereinigung mit Irland kämpfen zu wollen.
EU getroffen
Völlig unklar ist noch, wie die EU auf die Entscheidung reagiert und wie das Verhältnis künftig aussehen wird. Klar ist, dass es wohl Jahre dauern wird, bis der Austritt vollzogen ist. Bis dahin bleibt London zumindest theoretisch ein vollwertiges EU-Mitglied. Am Vormittag treffen die drei EU-Spitzenvertreter Jean-Claude Juncker, Donald Tusk und Martin Schulz zusammen. Die EU-Außenminister beraten ebenfalls, und nächste Woche findet der EU-Gipfel statt.
Zunächst werden wohl alle Seiten auf Beruhigung setzen, doch unter der Oberfläche geht die Angst vor dem vielzitierten Dominoeffekt um: dass also über kurz oder lang auch andere Länder Austrittsreferenden abhalten könnten. Frankreichs rechtsextreme Front National forderte in der Früh bereits ein französisches Austrittsreferendum.
Neue Gräben durch Kampagne
Die viermonatige Wahlkampagne war eine der hitzigsten und härtesten, die Großbritannien jem erlebt hat: Es hagelte hüben wie drüben Lüge- und Angstmach-Vorwürfe. Das Immigrationsthema wurde zum Kristallisationspunkt für alle Versäumnisse der britischen und europäischen Politik, mit teils offenem Rassismus. Der absolute Tiefpunkt wurde vor einer Woche erreicht, als die Labour-Abgeordnete Helen Joanne „Jo“ Cox ermordet wurde. In Umfragen schien das „In“-Lager in der Folge mehr Zulauf zu erhalten.
Die Kampagne offenbarte tiefe Gräben in der Gesellschaft - vor allem zwischen jenen - zahlenmäßig eher wenigen -, die von der Globalisierung profitieren, und jenen, die verlieren oder sich als Verlierer fühlen.
Hilflose Reaktion
Letztlich überwogen offenbar die Sorgen vor einer unkontrollierten Einwanderung und dem behaupteten Verlust der Souveränität und ein Protest der Arbeiterschaft des englischen Nordens. Die Warnungen eines Großteils der politischen und wirtschaftlichen Elite vor dramatischen wirtschaftlichen Folgen eines Alleingangs wurden in den Wind geschlagen - oder waren möglicherweise ein zusätzlicher Grund, für den „Brexit“ zu stimmen. „Die Menschen sorgen sich wegen der Sparpolitik und ihrer seit Jahren eingefrorenen Gehälter“, so der Finanzsprecher von Labour, John McDonnell. „Wir müssen beginnen, den Leuten zuzuhören“, so die Reaktion, die von Hilflosigkeit zeugt.